– Yamas –
(Wortstamm: yam = regeln, in Schranken halten, beherrschen)
Weitestgehend werden die Yamas als Regeln für soziales und ethisches Verhalten, als Moralkodex oder, im Gegensatz zu den Niyamas (innere Regeln), als äußere Regeln bezeichnet.
„Yama weist darauf hin, wie ein Individuum auf andere Menschen, Lebewesen und die Umwelt reagiert und sich gegenüber verhalten soll, um eine friedvolle, harmonische Welt zu gewährleisten.“ (John Scott „Ashtanga Yoga)
Diese äußeren Regeln (Yamas) können wir als Regeln des allgemeinen Handelns, bzw. für das gute Handeln in der Welt verstehen.
Also eine Art yogischer Ethik.
Jedoch sind die 10 in den Yamas und Niyamas enthaltenen Regeln mehr als eine Art 10 Gebote, wie oft angenommen.
Die 10 Gebote sind mehr restriktive Handlungsrichtlinien um ein Zusammenleben in der Gesellschaft zu gewährleisten.
Die Yamas und Niyamas zielen auf eine Transformation des Geistes und des Alltagsbewusstseins. Die Auflösung der Gebundenheit des Geistes und Alltagsbewusstseins an bestimmte Dinge stehen im Zentrum und nicht ein „Du darfst nicht“, wie in den zehn Geboten.
Die Körperübungen, die wir Asanas nennen, sind, meiner Meinung nach, unter anderem ein Werkzeug, um den Geist zu disziplinieren und die Aufmerksamkeit zu schärfen, um den Nährboden zu schaffen, aus dem heraus absichtsloses Handeln entsteht. Absichtslos im Sinne von bewusst absichtslos.
Ekirala Krishnamacharya beschreibt die yamas folgendermaßen:
„Beginne deine Übungen mit dem Regulieren der Tätigkeiten des Denkvermögens und des Körpers, und wende es auf deinen Tagesablauf an. Regle die Zeiten für Arbeit, Essen, Ruhe und Schlaf, und ordne dann deine Gedanken.“
Die Grundlage für all diese Überlegungen findet sich in der Mitte des ersten Teils der Yogasutren des Patanjali, in den Sutren 30 – 39.
Der einleitende Satz aus Sutra 30 lautet:
Ahimsa Satyam Asteya Brahmacarya Aparigraha Yamaha
Ahimsa Gewaltlosigkeit, Harmlosigkeit
Satyam Wahrhaftigkeit
Asteya Nicht-Stehlen (das Frei sein von diebischen Instinkten)
Brahmacarya reiner Lebenswandel, Reinheit in der Sexualität
Aparigraha Nicht- Besitzergreifen, ohne besitzergreifende Haltung sein
Yamah sind die Schritte der Regulierung (äußeren Disziplin)
Wie gesagt; oberflächlich betrachtet erscheinen die Yamas wie Regeln, die ähnlich den zehn Geboten einzuhalten sind. Doch die Yamas bedeuten mehr als das. Sie bezeichnen eine Geisteshaltung, die nicht durch Zwang oder Fesselung von Neigungen entsteht, sondern Ausdruck yogischer Tiefenerfahrung sind.
Was bedeutet es nun, wenn in Vers 35 bei Patanjali steht:
„Wenn man in Gewaltlosigkeit fest gegründet ist, schafft man eine Atmosphäre des Friedens, und alle, die in die Nähe kommen, geben die Feindschaft auf.“
Warum begegnet uns Gewalt, obwohl wir uns für friedfertig halten. Sind nur die anderen schuld, oder liegt die Wurzel des Problems bei uns selbst?
Welche Rolle spielt dabei unsere innere Haltung, vor allem unsere unbewusste innere Haltung?
Wie entsteht Gewalt?
Sie entsteht durch Gebundenheit. Durch Gebundenheit an unsere Emotionen wie Gier und Zorn. Und vor allem durch die Gebundenheit an die Unbewusstheit, mit der wir unsere Handlungen von diesen Emotionen antreiben lassen.
Die Gier etwas haben zu wollen führt zu gewaltvollem Handeln. Denn etwas haben zu wollen, ist an für sich schon ein aggressiver Akt. Und Zorn führt zu Konflikten, die der Haben Wollende selbst auslöst, auch wenn ihm das selbst gar nicht bewusst ist.
Yoga ist ein Weg der Bewusstmachung. Und in „Ahimsa“ die Bewusstmachung, die Gebundenheit des Alltagsbewusstseins an unsere Emotionen zu lösen. D.h., absichtslos, ohne Hintergedanken oder einen Zweck verfolgend zu handeln und gegen nichts und niemanden Gewalt auszuüben. Dies lässt auch anderen die Freiheit auf Gewalt zu verzichten und schafft eine friedvolle Umgebung.
Die Knoten der Gebundenheit des Geistes zu lösen, ist schließlich der rote Faden, der einem das Verständnis der hier beschriebenen fünf Yamas eröffnet.
Die für mich zentrale Yama ist Brahmacarya (Brahma = Gott, Brahman = Absolutes, Carya = Wandel), also „Wandel im Absoluten“.
In der indischen Tradition wird Brahmacarya mit Askese, also einem reinen Lebenswandel durch äußere Entsagung verstanden. In westlichen Interpretationen erzeugt das Verständnis von Brahmacarya, als sexuelle Keuschheit, einen oft schalen Nachgeschmack.
In Indien gilt der Brahmacarin quasi als Manifestation und Zeuge der Transzendenz in der materiellen Welt. Ein Mensch, der sich vom Schmutz der Materie gelöst hat und als Wächter des reinen Göttlichen gilt und verehrt wird.
Im Kern geht es jedoch nicht um sexuelle Entsagung und Askese im körperlichen Sinne, sondern um die Entsagung von der Gebundenheit des Geistes, der inneren Gebundenheit an das Unbewusste.
Unser Handlungen werden dann nicht mehr angetrieben von unseren Instinkten und abgespeicherten Informationen in unserem Unterbewusstsein, sondern wir entscheiden selbst, in einem reinen Sinne.
In ähnlicher Weise ist Satya, Asteya und Aparigraha zu verstehen.
Hier möchte ich nun einen Bogen schlagen zur Asanapraxis und die Frage beleuchten, wie und ob Yamas mit der Asanapraxis zu verbinden sind.
John Scott schreibt dazu Folgendes:
„In seiner Yogapraxis (Asanas) lernt der Yogaschüler den Moralkodex, im Verhältnis zu sich selbst, zu überprüfen (zu beherrschen), um ihn, in der selben Art und Weise, in der Aussenwelt anzuwenden.
Das heißt, dass der Yogaschüler seine Grenzen erkennen und respektieren muss und sich zu keiner Zeit darüber hinwegsetzen darf, noch sich Verletzungen durch Nichtbeachtung zufügen soll.“
Im Falle von Ahimsa lehrt die Praxis Gewaltlosigkeit sich selbst gegenüber (d.h. seinem Körper gegenüber). Um Positionen oder Asanas, die schwierig sind oder unmöglich erscheinen zu (bewältigen) schaffen, soll der Praktizierende sich selbst und seinem Körper mit Liebe und Respekt begegnen. Die Asanas folglich als Lehrmeister betrachten, denn als zu überwindendes Hindernis.
Satya lehrt den Schüler ehrlich zu sich selbst und anderen zu sein. In Bezug auf das Üben der Asanas, muss der Übende erkennen und anerkennen, auf welchem Stand er sich befindet und in seinen vernünftigen Grenzen (Begrenzungen) üben.
Asteya lehrt nicht zu betrügen, zu stehlen oder eifersüchtig zu sein auf andere Übende. Yogapraxis ist kein Wettkampf. Andere Schüler sollen eher als Inspiration dienen, statt Urteile über sie zu fällen oder negative Vergleiche anzustellen.
In Aparigraha lernt der Übende, nicht an Wunschvorstellungen festzuhalten, sondern den momentanen Umstand, wie körperliche Verfassung und Grenzen der Beweglichkeit zu akzeptieren. Es soll die Zeit für die Praxis aufgewendet werden, die dazu dient die Gesundheit zu stärken. Kein Wollen und Loslassen von dem Wunsch nach Fortschritt. Fortschritte passieren dann spontan, wenn man loslässt und sie zulässt. Aber erst, wenn die Zeit reif dafür ist.
Jeder Tag ist anders. Was gestern funktioniert hat, klappt möglicherweise heute nicht und morgen erst recht nicht. Von den Vorstellungen loszulassen, steht im Zentrum der Praxis. Und zu erkennen, dass die Praxis immer die gegenwärtigen Lebensumstände reflektiert.
Es zählt nicht was gestern war. Und was morgen sein wird, können wir nicht wissen. Aber wir können wachen Auges den gegenwärtigen Zustand registrieren und vor allem respektieren lernen.
Begegnen Sie sich selbst und Ihrer Praxis gegenüber mit Gleichmut und Beharrlichkeit!
Zwingen Sie sich nicht zu sexueller Enthaltsamkeit und kasteien Sie sich nicht.
Sie sind kein Mönch!
Haben Sie Spaß!
Üben Sie beharrlich, aber ohne zu wollen! Konzentrieren Sie sich auf Ihren Atem und tun Sie dann das Mögliche!
Beobachten Sie!
Genießen Sie Ihre Praxis!
Bleiben Sie am Ball und bleiben Sie wach im hier und jetzt!